Piercing - Kurioser Trend oder Ästhetik
des Schmerzes ?
Immer mehr Leute entdecken heutzutage eine Art des Körperschmuckes,
die bei so manchem nur Grausen, bestenfalls Verwunderung hervorruft:
Piercing, - zu deutsch “Durchbohren”.
Gepierct werden vor allem Körperteile, wo Schmuck gut zur Geltung
kommt: Nasen, Augenbrauen, Bauchnäbel oder auch die Zunge. Vorbei
sind die Zeiten, als lediglich Ohrlöcher gestochen wurden, und
Ohrschmuck bei Männern schon als anrüchig galt. Piercing bedeutet
Schmuck an allen möglichen Körperteilen: Nasen werden mit
Ringen verziert, Augenbrauen und Zungen werden durchstochen, Brustwarzen
und Bauchnäbel gepierct und selbst Schmuck im Intimbereich ist
keine Seltenheit.
Angeblich soll der Moment des Piercens ja nicht wehtun. Dennoch entsteht
fürs erste eine Wunde, die entsprechend versorgt werden muß.
Die Heilung für ein Zungenpiercing dauert drei bis fünf Wochen,
Anschwellung und Schmerz inklusive. Ein durchstochener Bauchnabel benötigt
Monate bis alles überstanden ist.
Besonders Jugendliche und junge Erwachsene haben in letzter Zeit den
Trend der durchstochenen Körperteile entdeckt: eine Modeerscheinung,
die Hand in Hand geht mit anderen dauerhaften Körperverzierungen
wie Tätowierungen oder Branding, dem Zufügen von Brandzeichen
zum Erhalt der gewünschten Brandnarbe.
Warum aber das Ganze? Lust auf Schmerz oder Ästhetik jenseits der
Norm?
Natürlich, Piercing ist an und für sich nichts Neues. Bereits
zu Urzeiten bemalten oder tätowierten die Menschen ihren Körper
oder durchstachen Körperteile, um schmückende Gegenstände
daran zu befestigen. Auch kennt schließlich jeder Bilder von riesigen
Ohrlöchern oder Unterlippen mit Pflöcken oder Spießen
bei manchen afrikanischen Völkern. Auch der Nasenring, der in Indien
getragen wird, erregt einen eigenartigen exotischen Reiz.
Doch meist hatten diese Formen des Schmuckes magische oder rituelle
Bedeutung, oder galten als Statussymbol für ihren Träger innerhalb
des Stammes.
Wer sich heute piercen läßt hat natürlich auch seine
individuellen Beweggründe. Piercings an sichtbaren Stellen, Augenbrauen
oder Nase, unterliegen dem Trend. Auffallen, Anderssein, Dinge tun,
die sich die meisten nicht trauen würden.
Schmuck, der nicht sofort ins Auge fällt, angefangen beim Zungenpiercing
oder am Bauchnabel ist persönlicher. Der Träger fühlt
sich besser und selbstsicherer. Warum das so ist, bleibt Geheimnis des
Einzelnen. “Es fühlt sich gut an”, “man hat immer
sein Spielzeug dabei” erklären junge Leute, die sich haben
piercen lassen. Oder sie finden es einfach nur “geil”. Viele
werden auf ihren Schmuck wieder verzichten, wenn sich die Mode ändert
und etwas anderes im Trend liegt.
Aber es gibt auch die, die irgendwann einmal mit dem Piercen angefangen
haben, und es dann nicht mehr lassen konnten. Dann wird im Laufe der
Zeit der Körper mit immer mehr Schmuck überhäuft: eine
besondere Art der Ästhetik, die nicht jedem gefällt.
Natürlich ist es wichtig, daß beim Piercing auf strenge Hygiene
geachtet wird. Geräte müssen absolut steril sein, denn Piercing
kommt einem Eingriff in den Körper gleich, der an medizi nischen
Gesichtspunkten orientiert sein sollte. Da es in Sachen Hygiene noch
genügend schwarze Schafe gibt, ist es wichtig, sich im Vorfeld
sorgfältig zu informieren, wo man sich piercen läßt.
Auch der Schmuck selbst ist strengen Kriterien unterworfen. Das Material
ist vielfältig: Edelstahl, Niobium, Gold oder Platin sollte es
schon sein. Wichtig ist die Körperverträglichkeit, zumindest
wenn es mit der noch frischen Wunde in Verbindung kommt. Für den
Ersteinsatz ist nickelfreier Schmuck sogar gesetzlich vorgeschrieben,
da Nickel bekanntlich Allergien auslösen kann.
Piercing ist momentan auf dem Vormarsch. Bis jetzt ist es in Amerika
oder England verbreiteter als bei uns in Deutschland. Doch auch hier
gibt es immer mehr Studios, die Piercing anbieten. Inzwischen gibt es
Magazine, die neben Information über Piercing auch kunstvolle Bilder
mit gepiercten Körpern zeigen und die ästhetische Seite dieser
Schmuckform hervorheben.
Piercing ist eine Form der Körperkultur, die ganz langsam ihr skurriles
Randgruppendasein verliert. Etablieren wird es sich wahrscheinlich nicht,
doch da der Schmuck, der durch den Körper gestochen wird, höchstens
dem Träger wehtut, kann man sich den Anblick gepiercter Augenbrauen
und Nasen ruhig gefallen lassen.
Ute Izykowski
Die Glocke, 2/97
|