Zeitschriftenartikel

 

Mythos Star Trek; 3/96; 4/96
Amnesty International; 7/96
Tatoos; 10/96
Piercing; 2/97
Anthroposophie; 3/97
Sanfter Tourismus; 7/97
Loveparade; 8/97
Beatles; 8/97, 9/97
Documenta X; 9/97
Krieg im Kinderzimmer; 2/98


documenta X
Zum letzten mal in diesem Jahrtausend findet in Kassel die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst statt:
die documenta X


Am 21.06. dieses Jahres öffnete die documenta für 100 Tage ihre Pforten. Der eine oder andere wird davon gehört haben. documenta, - was ist das eigentlich? Die documenta ist die bedeutenste Ausstellung von zeitgenössischer Kunst aus aller Welt. Sie findet alle vier bis fünf Jahre in Kassel statt, zum zehnten mal in diesem Jahr. Eine Jubiläumsausstellung also und auch die letzte in diesem Jahrtausend. Außerdem hat zum allerersten mal in der Geschichte dieser renommierten Ausstellung eine Frau die Leitung übernommen: die Französin Catherine David vom Pariser Picasso Museum. Frau David hat damit nicht nur eine schwere Aufgabe übernommen, sondern auch einen hohen Anspruch zu erfüllen. Der documenta eilt schließlich der Ruf voraus, die weltweit wichtigste Schau von Gegenwartskunst zu sein, ein Sammelpunkt all dessen, was die Kunstszene gerade zu bieten hat, einen Überblick über die wichtigsten Strömungen und Tendenzen.
Was interessiert mich moderne Kunst, wird so mancher jetzt sagen, damit kann ich sowieso nichts anfangen, ist alles Blödsinn. Bevor man sich aber zu Desinteresse und Ablehnung hinreißen läßt, sollte man bedenken, daß zeitgenössische Kunst schon früher abgelehnt wurde, zum Teil mit ganz schlimmen Folgen. Jedem ist wohl bekannt, daß während des Dritten Reiches in Deutschland viele Künstler als “entartet” galten und ihre Werke verboten wurden. Interessanterweise gerade solche, die heute unter dem Schlagwort “klassische Moderne” Millionenbeträge einbringen. Was aber hat das mit der documenta zu tun? Ganz einfach, nach der Nazizeit und den Nachkriegsjahren gab es in Deutschland einen enormen Nachholbedarf in Sachen Kunst des 20.Jahrhunderts. Die erste documenta, die im Jahre 1955 stattfand, sollte diesen Bedarf decken und Deutschland wieder Anschluß an das internationale Kunstgeschehen verschaffen. Der Kasseler Maler und Akademie- professor Arnold Bode und die von ihm ins Leben gerufene Gesellschaft “Abendländische Kunst des 20.Jahrhunderts e.V.” machten es sich zur Aufgabe, anläßlich der Bundesgartenschau 1955 in Kassel eine Ausstellung zu organisieren, die die bedeutensten Künstler des abendländischen Kulturkreises seit Anfang des 20.Jahrhunderts vorstellte. Tatsächlich war die erste documenta mit 130000 Besuchern so erfolgreich, daß eine zweite folgte. Heute ist die documenta zur Institution geworden, die Kunstinteressiere aus aller Welt anlockt. Jeweils für 100 Tage werden im Museum Fridericianum, im Ottoneum, der documenta- Halle und überhaupt überall in der Innenstadt Gemälde, Skulpturen, Objekte und Installationen gezeigt. Eine Reflexion zeitgenössischer Kunst. Die Erwartungen an die documenta X waren hoch. Die documenta 9 konnte 1992 unter der Leitung von Jan Hoet einen Publikumserfolg von über 600 000 Besuchern verbuchen, und das trotz vieler schlechter Kritiken. Die d9 sei zum “Rummelplatz der Beliebigkeiten” mißraten (Frankfurter Rundschau), hieß es damals. Tatsächlich stand so mancher Besucher etwas ratlos vor einem Heizkörper und suchte nach dem Schildchen mit dem Künstlernamen. Und das hübsche Objekt aus blauem Kunststoff mit gelbem Stofffetzen entpuppte sich wirklich als Müllsack nebst Wischlumpen, als es die Putzfrau eifrig entsorgte. Solchen Beliebigkeiten und Unklarheiten wollte Catherine David aus dem Weg gehen. Sie wollte keinen “Jahrmarkt der Kunst”, sie wollte “die großen Fragen der Gegenwart im Spiegel der Künste” zeigen. Die gesamte Stadt wurde in die Ausstellung miteinbezogen, es gibt einen festgelegten “Parcours”, beginnend beim früheren Kasseler Hauptbahnhof (jetzt” Kulturbahnhof”) über die Treppenstraße, dem Museum Fridericianum, dem Ottoneum, der documenta- Halle bis hin zur Aue. Film, Theater, Installationen, Videokunst und Fotographie, Skulptur, Malerei und Computerkunst werden von den Künstlern eingesetzt, um ihre Sicht der Gegenwart zu verdeutlichen. Parallel läuft unter unter dem Motto 100 Tage - 100 Gäste eine Vortragsreihe mit Historikern, Architekten, Kunstwissenschaftlern und Philosophen. Daneben gibt es statt des üblichen Kataloges ein Buch, - “das Buch” genannt. Und es hagelt Kritik. Die dX wurde rasch für “gescheitert” erklärt (Frankfurter Rundschau); ein “ Grau in Grau der Grübelei” (taz), “Schlamassel in Kassel” (Sonntag aktuell). Bemängelt wird vor allem, daß die Ausstellung diesmal zu kopflastig geraten und schwer vermittelbar sei. Es gibt wenig Malerei, dafür zu viel Videokunst und Fotographie. Überhaupt wird Wert auf die sogenannten neuen Medien gelegt: die dX ist im Internet vertreten, mit verschiedenen Projekten, aber auch mit Information. Wer etwas zu meckern oder zu loben hat, kann bequem ein e-mail schicken. Doch es ist wie so oft: bevor man sich auf die nicht mal einheitliche Kritik anderer verläßt, gilt: selber anschauen. Die documenta X läuft noch bis zum 28. September, die Deutsche Bundesbahn, einer der Hauptsponsoren, bietet Sonderfahrkarten nach Kassel an. Auch auf der Ausstellung selbst muß man sich nicht alleine gelassen fühlen. Es gibt Führungen für jeden Geschmack, sogar spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche. Auf jeden Fall ist die documenta eine wunderbare Möglichkeit gerade Kunstanfängern den Erstkontakt zu moderner Kunst zu ermöglichen, und zwar ohne die üblichen Berührungsängste. Schließlich muß man nicht alles verstehen, was da gezeigt wird, das tun nicht einmal Kunstexperten. Es reicht, wenn man sich auf ein Kunstwerk einläßt, schaut wie es wirkt, und ob es einem überhaupt etwas zu sagen hat. Sich bloß wundern oder auch einmal lachen ist erlaubt. Viele neue Eindrücke und Erlebnisse sind auf jeden Fall vorpro grammiert.


Ute Izykowski
Die Glocke, 9/97

 

 
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