Anthroposophie - Der etwas andere Weg zum
Ich
Der moderne Mensch ist auf der Suche nach der Bedeutung seines
Lebens. Die Anthroposophie zeigt Alternativen.
Was haben Waldorfschulen, Ganzheitsmedizin und biodynamischer
Landbau gemeinsam? Den Ursprung in den Erkenntnissen eines Mannes, der
den Begriff “Anthroposophie” für eine neue Auffassung
des menschlichen Wesens geprägt hat: Rudolf Steiner, 1861 in Kraljewec
an der Mur im ehemaligen Jugoslawien geboren. Anthroposophie heißt
übersetzt “Menschenweisheit”, und vertritt eine
Denk- und Lebensweise, die ganz bestimmten Vorstellungen unter- worfen
ist. “Ganzheitlich” ist ein wichtiger Begriff innerhalb
diese Vorstellungen.
Das bedeutet für die Pädagogik von Waldorfschulen: Lernen
ohne Leistungsdruck, keine Benotung im herkömmlichen Sinne und
Förder- ung der musischen und handwerklichen Fähigkeiten der
Schüler. Eurythmie steht auf jeden Fall auf dem Stundenplan, eine
von Steiner 1912 entwickelte Bewegungskunst, die Klänge und Worte
in Gesten und Gebärden umsetzen soll. Anthroposophisch orientierte
Heilkunde, die sich in Ergänzung zur Schulmedizin sieht, möchte
den ganzen Menschen betrachten, nicht nur der kranke Teil.
Dazu gehören dann auch künstlerische Therapien, Heileurythmie
und Heilmittel, die im Einklang von Mensch und Natur stehen, so zum
Beispiel Produkte des Pharmazie- und Kosmetik- Unternehmens Weleda,
das auf Initiative Steiners gegründet wurde. Da werden dann auch
Mistelpräparate zur Krebsbehandlung eingesetzt.
Biologisch-dynamischer Landbau schließlich setzt auf die umweltschonende,
chemiefreie Produktion hochwertiger Lebensmittel, die dann zum Beispiel
unter dem Markennamen “Demeter” in den Handel kommen.
Anthroposophische Gedanken wirken in fast alle Lebensbereiche: es gibt
anthroposophische Architektur, die weitgehend auf alles Eckige und Rechtwinklige
verzichtet, allerdings gerne den - formbaren- Baustoff Beton verwendet.
Bedeutende Künstler wie der Maler Wassily Kandinsky oder auch Joseph
Beuys waren von anthroposophischen Erkenntnissen beeinflußt.
Es gibt Einrichtungen, ja ganze Dorfgemein- schaften, in denen Behinderte
und Nichtbehin- derte zusammenleben. Es gibt Versuche, “Menschenweisheit”
auch in wirtschaftlichen Bereichen zu leben. Versuche, die darauf basieren,
das Einkommen des Einzelnen im Gemeinschaftstopf zu sammeln aus dem
jeder dann nehmen kann, was er zum leben benötigt. Die Entwicklung
der “Grünen” in der Politik ist beeinflußt von
anthroposopischem Denken.
Was aber ist nun Anthroposophie? Eine alternative Lebensform? Visionen
weltfremder Zeitgenossen? Dazu muß man wissen, daß Anthroposophie
ein Begriff ist, hinter dem sich ein ganz bestimmtes Bild des Menschen
und der Welt verbirgt. Dieses Bild hat seinerzeits Rudolf Steiner entworfen.
Der zentrale Begriff bei Steiner ist das Denken. Durch das freie und
bewußte Denken in Konzentration und Meditation soll die Welt begriffen
werden. Über verschiedene Stufen hangelt sich der Mensch zu den
übersinnlichen Erkenntnissen empor, auf denen die Anthroposophie
basiert. Diese Erkenntnisse besagen, daß der Mensch Teil des Universums
ist, Mikrokosmos im Makrokosmos. Der ganzheitliche Mensch, der nicht
nur aus Leib und Seele besteht, ist auf vielfältige Weise mit der
Welt verbunden.. Der Körper ist Teil des Mineralreiches, der Ätherleib,
verantwortlich für Wachtum, Fortpflanzung und dergleichen, verbindet
den Menschen mit dem Pflanzenreich. Der Astralleib ist für Empfindung
und Bewußtsein verantwortlich und verbindet den Menschen mit dem
Tier. Über allem aber steht das “Ich”, das den Menschen
zum Menschen macht und über Mineral-, Pflanzen-, und Tierreich
erhebt. Das Ich ist der geistige Teil des Menschen, der sich im Denken,
Sprechen oder Erinnern äußert und den Menschen zur Freiheit
befähigt. Freiheitliches Denken erlaubt dem Menschen schließlich
den Gedanken an Wiedergeburt (Reinkarnation) und Schicksal (Karma).
Der Mensch kann auch zu der Erkenntnis gelangen, daß es parallel
zur Entwicklung der Menschheit auch eine Entwicklung der Welt gibt,
die nicht durch wissenschaftliche Forschung, sondern durch Denken erfahren
werden kann. Steiner zumindest hatte angeblich Einsicht in die sogenannte
“Akasha-Chronik”, eine Art Weltbiographie über Vergangenes
und Kommendes, die nur in okkulter Schau gesichtet werden kann.
Wenn alles mit allem irgendwie zusammenhängt, der Mensch sich im
Laufe seiner Reinkarnationen immer weiter entwickelt, hat das praktische
Konsequenzen. Es gilt den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen, die
wiedergeborene Seele optimal zu fördern und die Verbindung zwischen
dem, was der Mensch im Inneren empfindet und wahrnimmt mit dem, was
er von der Außenwelt empfängt, in Einklang zu bringen. Der
Mensch soll durch Denken sein Ich erkennen, zu höherem Selbst-Bewußsein
gelangen. Das hat dann Einfluß auf die Lebensführung, die
nicht unter der Fremdbestimmung von äußeren, gesellschaftlichen
und technischen Faktoren zum bloßen Lebensvollzug herabsinken
soll. Anthroposophie heißt damit der Versuch, mit geistigen Mitteln
den Sinn des individuellen Lebens in sich selbst zu finden. Dieses Ziel
verfolgt die Waldorf-Pädagogik. Das Wiederherstellen einer aus
den Fugen geratenen Ordnung ist der Grundgedanke ganzheitlicher Medizin,
und biodynamischer Landbau soll die natürliche Ordnung der Welt
und des Menschen erhalten. Die guten Ergebnisse, die von anthropologischen
Einrichtungen erzielt werden, sind unumstritten. Trotzdem kann Steiners
Weg nur von wenigen begangen werden, denn Anthroposophie bedeutet auch
den Sprung ins kalte Wasser .Der Weg der Erkenntnis führt nicht
zum Ziel, sondern zu den Voraussetzungen des Weges. Kompliziert? Das
ist das Problem für Nichtanthroposophen. Entweder man glaubt Steiners
Erkenntnissen über Mensch und Welt und folgt seinem Weg, oder man
tut es nicht, und sucht sich einen anderen. Freiheit und Selbst-Bewußtsein
sind Wesenszüge des Menschen, das wußte auch Rudolf Steiner.
Ute Izykowski
Die Glocke, 3/97
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