Zeitschriftenartikel

 

Mythos Star Trek; 3/96; 4/96
Amnesty International; 7/96
Tatoos; 10/96
Piercing; 2/97
Anthroposophie; 3/97
Sanfter Tourismus; 7/97
Loveparade; 8/97
Beatles; 8/97, 9/97
Documenta X; 9/97
Krieg im Kinderzimmer; 2/98


Anthroposophie - Der etwas andere Weg zum Ich
Der moderne Mensch ist auf der Suche nach der Bedeutung seines Lebens. Die Anthroposophie zeigt Alternativen.

Was haben Waldorfschulen, Ganzheitsmedizin und biodynamischer Landbau gemeinsam? Den Ursprung in den Erkenntnissen eines Mannes, der den Begriff “Anthroposophie” für eine neue Auffassung des menschlichen Wesens geprägt hat: Rudolf Steiner, 1861 in Kraljewec an der Mur im ehemaligen Jugoslawien geboren. Anthroposophie heißt übersetzt  “Menschenweisheit”, und vertritt eine Denk- und Lebensweise, die ganz bestimmten Vorstellungen unter- worfen ist. “Ganzheitlich” ist ein wichtiger Begriff innerhalb diese Vorstellungen.
Das bedeutet für die Pädagogik von Waldorfschulen: Lernen ohne Leistungsdruck, keine Benotung im herkömmlichen Sinne und Förder- ung der musischen und handwerklichen Fähigkeiten der Schüler. Eurythmie steht auf jeden Fall auf dem Stundenplan, eine von Steiner 1912 entwickelte Bewegungskunst, die Klänge und Worte in Gesten und Gebärden umsetzen soll. Anthroposophisch orientierte Heilkunde, die sich in Ergänzung zur Schulmedizin sieht, möchte den ganzen Menschen betrachten, nicht nur der kranke Teil.
Dazu gehören dann auch künstlerische Therapien, Heileurythmie und Heilmittel, die im Einklang von Mensch und Natur stehen, so zum Beispiel Produkte des Pharmazie- und Kosmetik- Unternehmens Weleda, das auf Initiative Steiners gegründet wurde. Da werden dann auch Mistelpräparate zur Krebsbehandlung eingesetzt.
Biologisch-dynamischer Landbau schließlich setzt auf die umweltschonende, chemiefreie Produktion hochwertiger Lebensmittel, die dann zum Beispiel unter dem Markennamen “Demeter” in den Handel kommen.
Anthroposophische Gedanken wirken in fast alle Lebensbereiche: es gibt anthroposophische Architektur, die weitgehend auf alles Eckige und Rechtwinklige verzichtet, allerdings gerne den - formbaren- Baustoff Beton verwendet.
Bedeutende Künstler wie der Maler Wassily Kandinsky oder auch Joseph Beuys waren von anthroposophischen Erkenntnissen beeinflußt.
Es gibt Einrichtungen, ja ganze Dorfgemein- schaften, in denen Behinderte und Nichtbehin- derte zusammenleben. Es gibt Versuche, “Menschenweisheit” auch in wirtschaftlichen Bereichen zu leben. Versuche, die darauf basieren, das Einkommen des Einzelnen im Gemeinschaftstopf zu sammeln aus dem jeder dann nehmen kann, was er zum leben benötigt. Die Entwicklung der “Grünen” in der Politik ist beeinflußt von anthroposopischem Denken.
Was aber ist nun Anthroposophie? Eine alternative Lebensform? Visionen weltfremder Zeitgenossen? Dazu muß man wissen, daß Anthroposophie ein Begriff ist, hinter dem sich ein ganz bestimmtes Bild des Menschen und der Welt verbirgt. Dieses Bild hat seinerzeits Rudolf Steiner entworfen. Der zentrale Begriff bei Steiner ist das Denken. Durch das freie und bewußte Denken in Konzentration und Meditation soll die Welt begriffen werden. Über verschiedene Stufen hangelt sich der Mensch zu den übersinnlichen Erkenntnissen empor, auf denen die Anthroposophie basiert. Diese Erkenntnisse besagen, daß der Mensch Teil des Universums ist, Mikrokosmos im Makrokosmos. Der ganzheitliche Mensch, der nicht nur aus Leib und Seele besteht, ist auf vielfältige Weise mit der Welt verbunden.. Der Körper ist Teil des Mineralreiches, der Ätherleib, verantwortlich für Wachtum, Fortpflanzung und dergleichen, verbindet den Menschen mit dem Pflanzenreich. Der Astralleib ist für Empfindung und Bewußtsein verantwortlich und verbindet den Menschen mit dem Tier. Über allem aber steht das “Ich”, das den Menschen zum Menschen macht und über Mineral-, Pflanzen-, und Tierreich erhebt. Das Ich ist der geistige Teil des Menschen, der sich im Denken, Sprechen oder Erinnern äußert und den Menschen zur Freiheit befähigt. Freiheitliches Denken erlaubt dem Menschen schließlich den Gedanken an Wiedergeburt (Reinkarnation) und Schicksal (Karma). Der Mensch kann auch zu der Erkenntnis gelangen, daß es parallel zur Entwicklung der Menschheit auch eine Entwicklung der Welt gibt, die nicht durch wissenschaftliche Forschung, sondern durch Denken erfahren werden kann. Steiner zumindest hatte angeblich Einsicht in die sogenannte “Akasha-Chronik”, eine Art Weltbiographie über Vergangenes und Kommendes, die nur in okkulter Schau gesichtet werden kann.
Wenn alles mit allem irgendwie zusammenhängt, der Mensch sich im Laufe seiner Reinkarnationen immer weiter entwickelt, hat das praktische Konsequenzen. Es gilt den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen, die wiedergeborene Seele optimal zu fördern und die Verbindung zwischen dem, was der Mensch im Inneren empfindet und wahrnimmt mit dem, was er von der Außenwelt empfängt, in Einklang zu bringen. Der Mensch soll durch Denken sein Ich erkennen, zu höherem Selbst-Bewußsein gelangen. Das hat dann Einfluß auf die Lebensführung, die nicht unter der Fremdbestimmung von äußeren, gesellschaftlichen und technischen Faktoren zum bloßen Lebensvollzug herabsinken soll. Anthroposophie heißt damit der Versuch, mit geistigen Mitteln den Sinn des individuellen Lebens in sich selbst zu finden. Dieses Ziel verfolgt die Waldorf-Pädagogik. Das Wiederherstellen einer aus den Fugen geratenen Ordnung ist der Grundgedanke ganzheitlicher Medizin, und biodynamischer Landbau soll die natürliche Ordnung der Welt und des Menschen erhalten. Die guten Ergebnisse, die von anthropologischen Einrichtungen erzielt werden, sind unumstritten. Trotzdem kann Steiners Weg nur von wenigen begangen werden, denn Anthroposophie bedeutet auch den Sprung ins kalte Wasser .Der Weg der Erkenntnis führt nicht zum Ziel, sondern zu den Voraussetzungen des Weges. Kompliziert? Das ist das Problem für Nichtanthroposophen. Entweder man glaubt Steiners Erkenntnissen über Mensch und Welt und folgt seinem Weg, oder man tut es nicht, und sucht sich einen anderen. Freiheit und Selbst-Bewußtsein sind Wesenszüge des Menschen, das wußte auch Rudolf Steiner.

Ute Izykowski
Die Glocke, 3/97

 
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